WG Impressionen

Wohngemeinschaften aus der kämpferischen Zeit

Die folgenden Bilder geben Einblicke in «alternative» Wohnsituationen ab 1978. Angefan­gen mit einer Wohngemeinschaft in einem zwar höchst baufälligen, aber bezahlbaren Altstadt-Haus. Damals die grosse Befreiung aus dem komfortablen, aber miefigen Eltern­haus ins pure Chaos. Trist? Schön? Hauptsache FREI, und lehrreich dabei. Ich habe dort z.B. den Bachelor in Haushaltsführung absolviert.

Zwar mit nur zweibeinigen Geschirrspülern und ohne Closomat und Putzfrau, dafür aber sonst mit der einen oder anderen Überraschung, so zum Beispiel einer Dusche direkt im Zimmer, die allerdings nur bei Regenwetter funktioniert hat, oder später dann mit der nachgewiesenermassen kältesten wetterunabhängigen Dusche, bei der die Wasserleitung im Winter mit dem Gasbrenner aufgetaut werden musste, wollte man nicht von Eiswürfeln erschlagen werden.

Bezüglich Kulinarik wäre noch das eine oder andere Intermezzo aus der Erinnerung erwähnenswert: Wie wär’s zum Beispiel mit «Gummiadler mit Frostbeulen auf aufgeweichten Kartoffelchips» oder mit Delikatessen wie Büchsenspargeln oder weissen Bohnen, ebenfalls aus dem Blech? Und das zu den unmöglichen Essenszeiten durchnächtigter Studenten, so gegen 11 Uhr morgens.

Und wenn dann der werktätige Teil der Bewohner­schaft nach Hause kam und nach etwas Essbarem suchte, hiess es höchstens: Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der frisst halt noch, was übrigbleibt.

Nicht immer war es aber so, dass etwas übriggeblieben ist. Wenn nämlich grad kein Geld da war, musste man mit ein bisschen «nichts» improvisieren.

Immerhin hatten wir gute Beziehungen zum städtischen Schuldienst, so war doch meistens noch ein Stück Kreide da, mit dem man die hauseigene Kommunikations-Zentrale bedienen konnte.

Wer das überlebt hat, war gefeit gegen alle Unbill des späteren Lebens. Diese Art von Lebensschule war eine prima Grundlage für spätere Selbsterfahrungsgruppen, in denen die erlittenen Traumata in bioenergetischen Waldspaziergängen und holotropen Atemerfahrungen gebührlich abgehandelt werden konnten.

Das Wohnzimmer für die eher seltenen gemeinsamen Essen war zugleich auch Notschlafstelle für aufgelesene Elternhaus-Flüchtlinge, Garderobe, Lesesaal und Standort der zentralen Poststelle.

Mit religiöser Stereo-Anlage; ohne beten und hoffen lief da nichts. Frei hängende Kabel konnten entweder Antennen- oder Stromkabel sein; dann war der Geist sogar spürbar. Diesen «Hardware-Service» konnte damals nicht einmal die katholische Kirche bieten.

Dafür war die gute Stube heizbar, wenn sich jemand dazu erniedrigte, etwas Holz zu spalten. Das machten aber nicht immer die kräftigen Männer, denn die wussten, dass Frauen eher kalt hatten und sich gerne auch mal beweisen wollten. Beides Tatsachen, die «Ihre Herrlichkeiten» in der kalten Stube in dicken Baumwolljacken geduldig ausharren liessen; kommt Zeit, kommt Holz.

Das gelbe Viereck im Hintergrund war das WC-Fenster, die Leiter davor diente als Schutz vor Flugkörpern aller Art, die Langsitzern den Aufenthalt ein bisschen abwechslungsreicher gestalten sollten.

Im Hintergrund das Küchenfenster, diskret in staubblinder Tarnfarbe gehalten.

Die innovativen Männer spielten derweil lieber Frisbee. Das haben wir erfunden, lange bevor die Freizeitsportarten boomten.

Die Wettkämpfe fanden meistens im Rahmen irgendwelcher Hahnenkämpfe statt. Wer eine Singlescheibe (für später Geborene: so nannte man im mechanischen Zeitalter die Schallplatten mit nur einem Lied pro Seite) aus mindestens 5 Metern Entfernung unbeschadet durch’s Klo-Fenster brachte, wurde als kleiner König gefeiert.

Die Singlescheiben hatten eine etwas eigenwillige Aerodynamik, viele habens nicht geschafft. Deren Überreste wurden dann als abschreckende Beispiele an die Wand genagelt.

Aber dann war wieder Friede angesagt, denn ein Eltern-Besuch stand an.

Ein Festessen: warm, nicht versalzen und auf ordentlichen Tellern serviert, die wir am Vortag noch schnell im Brockenhaus um die Ecke organisiert hatten. Mit echtem Wein und sogar mit Blumen auf dem Tisch; man kam sich in der «eigenen» Stube schon fast fremd vor.

Mit Grossmutters Leintuch als Tischdecke, damit man die Zigaretten-Brandlöcher in der Holzplatte nicht sah und dem Webteppich an der Wand, damit nicht während des Essens der Putz abbröckelte. Doch nach dem Festessen war dann bezüglich Essensvorräte wieder tote Hose. Aber immerhin kriegten wir die Gäste satt.

Dafür haben sich die Ratten dann über die Reste hergemacht und morgens um 2 eine fetzige Party steigen lassen. An Schlaf war nicht zu denken. So wurde Kriegsrat gehalten und eine letztendlich erfolgreiche Strategie entwickelt.

Zu Zweit haben wir Käse und andere Leckereien ausgestreut und stundenlang mit alten Knarren in quitschenden Polstersesseln aus dem Brockenhaus gewartet, bis er schwach wurde.

Er oder Sie, den wir Maxli, den Rattenpapi nannten; jedenfalls das fetteste Exemplar des Hauses. Ein gezielter (ja, wirklich, nicht zensuriert) Schuss aus dem Luftgewehr, und auffi ging’s, in den Rattenhimmel.

Die Privat-Gemächer

Ein Zimmer mit trockenem Holz und funktionierendem Ofen. Viel Wert in diesem Haus.

Der Industrieventilator hinter dem Rauchverteiler sorgte für schnelle und angenehme Wärme, vorausgesetzt, der Luftdruck liess den Rauch wirklich durch den Kamin abziehen. Und sonst gab’s ja auch noch Fenster…

…oder einen selbst gebastelten Rauchmelder mit der Hupe des verblichenen Citroën Döschwo oberhalb des aus Abfallholz ebenfalls selbst gebastelten Lattenrosts mit Matratze, genannt Bett.

Der kleine Stromer hat sich das alles sehr praktisch eingerichtet.

Die Lebe-Ecke mit privater Notschlafstelle für die angenehmeren Gäste. Für philosophische Streitgespräche bei Tee Arab, billigem Wein und anderen nicht ganz jugendfreien Genussmitteln.

Der Outdoorbereich im Sommer

Die «WG Neustadtgasse» war Nutzer des grössten grünen Innenhofs der ganzen Altstadt.

Mit dem schönsten Pizzaofen zwischen Chicago und Hettlingen. Produzierte durch einen Konstruktionsfehler anfänglich tolle Quarzsand-Pizzas, aber junge Leute haben ja gute Zähne…

Einmal ist das erste Mal. Und das tut meistens ein bisschen weh. Zum Beispiel, wenn ein Bollenstein auf einen Birkenstock fällt, ohne dass zuvor der Fuss daraus entfernt wurde.

Das imposante Werk in seiner vollen Grösse. Ein Stolz des angehenden Architekten, dessen frühes Statik-Experiment hielt, was es versprach.

Die WG-mässige Neuzeit

Später dann, an anderer Adresse, andere Leute, mehr Ruhe und kontinuierliche Komfortverbesserung. Erstmals eine Waschmaschine im Schopf, die allerdings im Winter wegen Frostgefahr ausser Betrieb war. Dafür keine Dusche mehr. Öffentliche Bäder, Kollegen und im Extremfall sogar mal das Elternhaus mussten dafür herhalten.

Ein feuerpolizeilicher Grenzfall von einem Kachelofen hielt die gute Stube warm, dafür kosteten die beiden Wohnungen (4- und 2-Zimmer) zusammen gerade mal 360 Franken im Monat, das hat für viele warme Pullover gereicht. Jammerschade, dass von dieser Loge keine Bilder mehr existieren.

Aber auch diese Vermieterin ist gestorben, das Haus wurde verkauft und abgebrochen. Jetzt steht dort ein Betonsilo für Tiefgaragen-Käfighaltung und der schöne Garten mit den guten Blütenpflanzen ist einem Alibi-Kinderspielplatz gewichen.

Der echte Komfortsprung kam danach: Die erste fast private Dusche mit Platz zum Verschwenden. Eine ganzjährig benutzbare Waschmaschine machte uns wirklich unabhängig von externen Wohltätern.

Dafür gab’s statt des Kachelofens nur noch einen Öl-Schalenbrenner im Wohnzimmer. Das Heizöl musste aus dem Fass in eine Giesskanne gepumpt und in den 3. Stock hochgeschleppt werden. Das Öl wurde mittels gefaltetem Wachspapier in Brand gesetzt und der Ofen verbreitete einen Geruch wie in einer Bauarbeiter-Unterkunft. Aber wenigstens war’s warm.

Dann, der ultimative Luxus: Ein eigenes Bad! Eine alte Kuhtränke, der dann aber beim dritten Bad die Füsse gebrochen sind. Man stelle sich das vor: Du sitzst gemütlich in der Wanne, hörst ein leises Knirschen, ein feines Vibrieren, und dann: Kopf einziehen, und ab geht’s! Nicht wie im Europapark auf gesicherten Schienen, sondern mit 200 Litern Wasser auf den Kellerboden, bedeckt von ein paar hundert Kilogramm Grauguss.

Ein Bild, absolut würdig für eine SUVA-Werbung. (Für Nicht-Schweizer: Schweizerische Unfall-Versicherungs-Anstalt)

Nach dem ersten Schock: Veloanhänger pumpen und ab in den Baumarkt, Kalksandsteine und Bauschaum kaufen und flicken, was noch zu flicken ist. Wir haben’s beide überlebt, die Wanne und ich. Unser lang ersehntes Bad lassen wir uns nicht einfach so nehmen!

Dann wird es immer besser: Die erste Loge mit Zentralheizung. Ein Kachelofen wie gehabt, aber hier mit eingebautem Heizregister, das über Gussheizkörper auch die anderen Räume heizt. Vorausgesetzt natürlich, der Maschinist ist im Haus und hebelt die richtigen Ventile auf, vergeht keine Stunde, bis auch die entferntesten Heizkörper Wärme abgeben können.